Von meiner Mutter Haus
Lea Goldberg, Von meiner Mutter Haus
aus dem Hebräischen von Harald Schmitz
Die Mutter meiner Mutter starb
im Frühling ihres Lebens.
Und ihre Tochter erinnerte sich nicht an ihr Gesicht.
Ihr Portrait, eingeritzt auf dem Herzen meines Großvaters,
wurde weggewischt aus der Welt der Figuren
nach seinem Tod.
Nur ihr Spiegel ist zu Hause geblieben,
tiefer geworden von den Jahren in dem Silberrahmen.
Und ich, ihr blasses Enkelkind, ihr nicht ähnlich,
schaue heute hinein wie in einen See,
der seine Schätze unter dem Wasser verbirgt.
Sehr tief hinter meinem Gesicht
sehe ich eine junge Frau
mit rosenroten Wangen lächelnd.
Sie trägt auf ihrem Kopf eine Perücke.
Sie trägt einen länglichen Ohrring an ihrem Ohrläppchen,
sie zieht ihn durch ein kleines Loch
im zarten Fleisch des Ohrs.
Sehr tief hinter meinem Gesicht
scheint helles Gold von ihren Augen.
Und der Spiegel trägt die Tradition der Familie:
Sie war sehr schön.
(1955)
Lea Goldberg, Mi-beth immi, in: T. Carmi, Hebrew Verse. London 1981, 552-553.