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Glück

Lea Goldberg, Glück

aus dem Hebräischen von Gabrielle Oberhänsli-Widmer


1


Die Mutter geht langsam. Ihr kleiner hagerer Körper schaukelt ein wenig beim Gehen. Frauen, deren Körper so hager und leicht ist, haben einen eiligen Schritt. Doch ihr Sohn ist da. Ausgestreckt auf dem Liegestuhl. Und sie geht langsam. Wenn sie zu ihm tritt, sich über ihn beugt und das Kissen zurechtrückt, sieht Schanai das feine Netz der Falten, das die Haut ihrer runden Wange überzieht. Ihr Haar, das dünne weisse Haar, das über ihren Kopf gespannt ist wie Fäden über eine Spule, berührt seinen wilden schwarzen Haarschopf. Das Licht des Sonnenuntergangs gibt ihrem weissen Haar einen leichten rosa Farbklang. Dieser blassrosa Kopf seiner alten Mutter. Schanai sieht, wie er sich niederbeugt auf dem schwächlichen Hals wie eine schwere welke Blume auf einem dünnen Stengel.

"Ist es so gut für dich, meine Sohn?" fragt die Mutter.

"Ich bin sehr glücklich, Mutter", lächelt Schanai.

Sie zuckt erstaunt ihre schmalen Schultern, hebt ihren Kopf und schüttelt ihn ratlos. Sie ist verletzt, wartet auf ein Seufzen, auf ein Klagen. Er aber lächelt. Sie beugt sich nochmals zu ihm, zu seinen Füssen. Sie streckt ihre dünnen Arme mit den spitzen Ellbogen aus, Arme wie die eines Mädchens vor der Pubertät. Ihre flinken Hände rücken dort am verlängerten Fussende des Liegestuhls seine Beinprothese zurecht. Nochmals möchte sie fragen, ob es ihm so recht sei, doch sie wagt es nicht.

"Ich bin sehr glücklich, Mutter", wiederholt Schanai eigensinnig und ruhig zugleich. Sie richtet sich auf und geht. Geht langsam, auf Zehenspitzen, gleichsam aus Furcht, ihn zu wecken. Schanai liegt da und lächelt.

Zwei Zypressen nahe der niedrigen Mauer heben sich schwarz von der rosa Farbe des Meeres und des Himmels ab. Das Tor steht offen. Weisse Steinstufen führen zum Strand hinab. Schanais Augen schweifen in die Höhe. Ein gelber Spielzeugdrachen schwebt durch das klare Himmelblau. Das Jauchzen von Kindern erfüllt den Strand. Schanai meint im Chor der Kinder das fröhliche Johlen von Dorith herauszuhören. Er fährt mit der Zunge über die Lippen und spürt den feinen scharfen Geschmack des Meersalzes.

Hinter ihm, hinter der breiten gläsernen Haustür vernimmt er die Schritte der Mutter. Jetzt sind sie behende und leicht. Er lauscht. Sie geht im Zimmer auf und ab. Hin und her wie ein Pendel. Er denkt über sie nach: die kleine Frau und ihre grossen Sorgen. Die weibliche Unruhe und das mangelnde weibliche Vertrauen. So sind sie – die Mütter, die Geliebten, die Töchter. Sie ist verletzt, die alte Mutter. Eine verschlossene Welt ist das. Die Welt der Männer, die ihren Mund nicht auftun, nicht mit ihr weinen, ihre Sorge nicht kundtun. Und dies Zeit ihres Lebens, Zeit ihres Lebens. Dieser erwachsene Sohn und seine Ruhe, seine furchtbare Ruhe. Sie verzeiht ihm nicht. Sie verzeiht ihm nicht, dass er das durchsichtige Licht dieses Landes liebt, dass er sich hier gut fühlt, dass er sich selbst jetzt gut fühlt, nachdem Jula ihn verlassen und ihm Dorith zurückgelassen hat, obwohl sie nicht seine Tochter ist, dass er als Sohn seiner kleinen Mutter und Vater dieses fremden Mädchens, Julas Tochter, es wagt, in seiner Einsamkeit glücklich zu sein, selbst jetzt, nachdem sein Bein amputiert wurde. Das Glück und die Ruhe eines Behinderten. Er macht ihr etwas vor. Sie ist sicher, dass er seinen Mutwillen mit ihr treibt. Er verbirgt seine Verzweiflung, seinen Schmerz und seine Nöte vor ihr, um sie aus seiner Welt und seinem Leben auszuschliessen. Sie verzeiht nicht. Sogar die Mütter unter ihnen können nicht verzeihen ...

Er schliesst die Augen und versucht ihr mit seinem stummen Gedanken zu beweisen: "Aber mir geht es wirklich gut, Mutter! Mir geht es sehr gut."

Er hört ihre gepresste Stimme, welche die Wut zurückhält und sucht ihrer Beleidigung Herr zu werden, eine beleidigende Stimme: "Ich weiss, du bist ein Heiliger ... wie dein Vater."

Mit all dem Schmerz einer Frau, die den Mann, den sie am meisten liebte, nie verstanden, nie begriffen hat: "Auch dein Vater war ... so ein Heiliger."

Er öffnet wieder seine Augen, und die roten Strahlen des Sonnenuntergangs brechen in seinen Blick. So sehr gleichen sie Julas wilder roter Mähne. Auch Jula hatte so mit ihm geredet. Alle Frauen hatten ihn dieser seltsamen Schuld bezichtigt. Ihre betrunkene hysterische Stimme:
"Du bist ein Heiliger! Weisst du, was du bist? Du bist ein Heiliger! Ich kann mit einem Heiligen nicht leben! Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht!"

Dann ging sie fort und liess ihm ihre kleine Tochter zurück. Dorith. Gut, dass Jula gegangen ist. Doch Dorith, würde auch sie ihm später als Erwachsene zur Feindin werden wie all die Frauen? Wegen dieser seiner ihm ganz eigenen Ruhe, wegen seines Bewusstseins des dem menschlichen Lebens innewohnenden Glücks, das ihm gegeben wurde und das sie aus einem unerfindlichen Grund als grosse Beleidigung empfinden und es als "heilig" stempeln. Es schmerzt ihn, dass Dorith so wie alle Frauen werden würde.

Sie alle ohne Ausnahme haben keinen Zugang zu der grossen Ruhe der Welt. Er sieht sie täglich bei seiner Arbeit. Im grossen Operationssaal des Krankenhauses, sie helfen ihm zu. Die Krankenschwestern. Er hört ihr Flüstern, mit Hochachtung und gekränkt zugleich: "Doktor Schanai regt sich niemals auf."

Er erinnert sich an das Gesicht von Schwester Jochevet. Diese so plumpe und stille Schwester, deren Hände immer etwas zittern, wenn sie ihm die Operationsinstrumente reicht. Er erinnert sich an ihr Gesicht, als man ihn in eben das Krankenhaus brachte, in dem er selber arbeitet. Sein Freund, der Arzt, verliess das Zimmer. Sie blieb bei ihm und schaute ihn voll Mitleid an. Er sagte:
"Macht nichts, Schwester Jochevet, ich weiss alles. Walzer werden wir nun nicht mehr tanzen können. Doch es bleibt noch so viel."

Da warf sie ihm diesen Blick starren Entsetzens zu, nach einer Träne in seinen Augen flehend. Doch er lächelte, trotz allem. Und er wusste schon, was sie sagen würde. Und so kam es. Etwas Beleidigtes, Feindliches und Furchtsames waren in ihren Worten:
"Sie sind ein Heiliger, Doktor Schanai."

Aber jetzt sind sie weit weg. Der gelbe Spielzeugdrache sinkt vom Himmel herab. Die Luft ist dämmrig und kühl. Die Mutter geht aus dem Haus. Sie geht langsam. Geht an ihm vorüber zum Tor. Stützt sich auf die niedrige Mauer neben der Zypresse.
"Wo ist Dorith so spät noch?" hört man ihre besorgte Stimme.
Schanai lächelt: "Sie kommt schon, Mutter."


2


Dorith steigt die weissen Steinstufen hoch. Ihre Hände sind voll mit Muscheln und Steinen. Ihre hellen Locken, der Funke von Julas wilder Flamme, diese Locken sind im Dämmerlicht beinahe durchscheinend – eine Blume, ein Löwenzahn im Wind.

Sie beginnt schon zu sprechen, während sie noch die Stufen hochsteigt, und ihre kindliche Stimme erfüllt den Raum: "Ein Junge hat erzählt, dass er in Haifa war. Und auf dem Weg wurde geschossen. Viele viele Schüsse. Vielleicht tausend! Furchtbar viele! Vielleicht unendlich viele. Und ein Mann im Bus, der am Bein verletzt wurde, so wie Papa, schrie ganz entsetzlich. Bis in den Himmel hinauf!"

"Komm essen", sagt Schanais Mutter.

Aber Dorith erzählt zu Ende:
"Da hab ich ihm gesagt, dass mein Papa nicht einmal geschrien hat, als man ihm das Bein abgeschnitten hat, weil er der grösste Held ist!"

"Komm essen!" wiederholt die Mutter. Und in ihren Augen, die in einer Mischung von Mitleid, Furcht, Liebe und Feindschaft auf das Gesicht ihres Sohnes und das des Mädchens gerichtet sind, blitzt eine Träne auf.

"Nein", sagt Dorith entschieden, "zuerst erzählt Papa mir eine Geschichte."

Die Mutter zuckt die Schultern. Ein Ausdruck von Kränkung und Resignation. Sie setzt sich auf den niedrigen Stuhl zur Rechten von Schanai.

Dorith klappert und klimpert mit ihren Muscheln und Steinen. Sie nimmt auf dem Liegestuhl Platz und schmiegt sich an Schanais gesundes Bein. Schanai spürt die Wärme, die von diesem kleinen Körper ausgeht. Er richtet sich auf, stützt sich auf seinen Ellbogen und küsst die entblösste Schulter des Mädchens. Der Geschmack vom Meersalz auf seinen Lippen vermischt sich mit dem Salzgeschmack auf der Haut des Mädchens. Meer, kindlicher Schweiss und Wind. Und er denkt aus irgendeinem Grund an einen Wald nach dem Regen, irgendwo dort im Norden Europas.

"Also. Welcher Tag?"

"Der sechste Tag", antwortet das Mädchen.

"Und am sechsten Tag schuf Gott den Menschen. Und der Mensch wusste nicht, dass er anders war als die wilden Tiere und das Vieh. Augen hatte er zum Sehen, eine Nase zum Riechen, Ohren zum Hören und einen Mund zum Essen. Er versorgte die Tiere und das Vieh im Garten Eden. Der Mensch wusste nicht, dass er auch eine Seele hatte. Es ging ihm gut im Garten Eden. Er ernährte Tiere und Vieh. So verging der Tag des Menschen, und es kam die Nacht. Der Mensch sass allein im Garten Eden. Der Himmel war schwarz, die Bäume waren schwarz und die schlafenden, schnarchenden Tiere waren schwarz. Alles war schwarz. Da stieg die Angst in ihm auf, denn er war so allein, einer nur in diesem Dunkel, so klein und schwach und konnte doch weder Vater noch Mutter rufen ..."

"Warum hatte er keine Eltern?" bemerkt Dorith ernst.

"Richtig, er hatte keine Eltern", antwortet Schanai, und auch seine Stimme ist ernst.

"Und warum hat er nicht nach Gott gerufen?" fragt Dorith.

Schanai denkt einen Augenblick nach:
"Er kannte seinen Namen nicht. Und so spürte er, wie die Angst in ihm aufstieg, und die war sehr gross. Der Mensch fühlte, dass die Angst nicht nur in den Augen, in den Ohren, im Mund, in den Händen, im Körper, im Herzen ist – das merkte der Mensch. Da erkannte er, dass die Angst die Seele ist. Deshalb stand er auf und rannte, um der Seele zu entkommen, doch die Angst verfolgte ihn. Seine Seele verfolgte ihn. Er rannte und rannte, bis er einen steilen Berg erreichte. Zweige knackten unter seinen Füssen, Steine kamen ins Rollen und verletzten ihn. Er fiel, kam mit den Steinen ins Rollen und brach sich ein Bein ..."

"Und man brachte ihn zum Operieren ins Krankenhaus ..." versucht Dorith die unterbrochene Geschichte weiterzuspinnen.

„Nein“, widerspricht Schanai, „im Garten Eden gab es kein Krankenhaus. Der Mensch lag allein in der Nacht und verspürte einen furchtbaren Schmerz. Der Schmerz war nicht nur im Bein. Der Schmerz war nicht nur im Körper. Der Schmerz war am selben Ort wie die Angst. Da dachte der Mensch, dass die Seele der Schmerz ist. So lag er da, unfähig sich bewegen, bis die Sonne aufging. Als die Sonne aufging, wurde es ganz hell und ruhig im Garten Eden. Der Schmerz des Menschen liess langsam nach, und die Angst wich von ihm. Über ihm erhob sich überaus blau und hoch das Himmelsgewölbe. Er lag da, blickte in den Himmel, unfähig sich zu bewegen. Er fühlte, dass eine grosse Freude von ihm zum Himmel aufstieg. Freude und Ruhe. Da erkannte der Mensch, dass die Seele nicht nur Angst und Schmerz, sondern dass die Seele auch die Freude ist. So lag er alleine da und war sehr glücklich.“

„Und Eva?“, erhebt Dorith bang ihre helle Stimme, „wo war Eva?“

„Eva?“ – überlegt Schanai, „Eva hat es nicht gegeben, und sie ist nicht erschaffen worden. Sie war nur ein Gleichnis.“1

„Aber warum denn“, fragt Dorith ängstlich.

„Genug ...“ – unterbricht die Mutter, und ihre Stimme klingt schmerzvoll. – „Komm essen!“

Sie bringt das Mädchen ins Haus. Sie geht an Schanai vorbei. Sie geht langsam. Schanai bleibt allein zurück. Regungslos liegt er auf dem Liegestuhl. In der Ferne, in der abendlichen Dunkelheit irrlichtert die vereinzelte Leuchte eines Schiffes, das auf den Wellen gleitet. Der Himmel ist dunkelblau, auch sehr hoch.

Und Schanai ist allein.

(1938)


Lea Goldberg, Oscher, in: Turim 21, 1938, 4; nachgedruckt in: Lea Goldberg, Kol ha-sippurim (Gesammelte Erzählungen), herausgegeben von Giddon Ticotsky und Hamutal Bar-Yosef, Bnei-Brak 2009, 65-70.



1 Anspielung auf das bekannte Diktum eines anonymen Rabbis über Hiob aus dem Babylonischen Talmud (Baba Batra 15a): Ijjov lo haja we-lo nivra ella maschal haja – Hiob hat es nicht gegeben, und er ist nicht erschaffen worden. Er war nur ein Gleichnis.



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