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Kontextualisierung

Pressefreiheit in der Türkei

Die türkische Regierung steht nicht erst seit der Niederschlagung des Putschversuchs vom 15./16. Juli 2016 in Bezug auf die Frage der Pressefreiheit stark in der Kritik. In einer Studie vom März 2016 analysiert das Bipartisan Policy Center, ein überparteilicher Thinktank in Washington DC, die Mechanismen, mit denen die AKP-Regierung die Presse kontrolliert. Während in den ersten Jahren der AKP-Regierung auch im Zuge der Annäherung an die Europäische Union die Pressefreiheit in der Türkei verbessert wurde, ist seit 2008 eine zunehmende Verschlechterung zu beobachten. Die Studie stellt fest, dass Einschüchterung und Selbstzensur im türkischen Pressewesen weit verbreitet sind (Mechanisms of Control 2016). Die Grundlage dafür bildet eine Reihe von Straftatbeständen wie „Entfachen von Hass und Feindseligkeit“, „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“, „Förderung von Terrorismus“ oder „Beleidigung des Präsidenten“. Wegen „Veröffentlichung geheimer Dokumente“ wurden der Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet Can Dündar und sein Kollege Erdem Gül Anfang Mai zu Haftstrafen verurteilt. Das Gerichtsverfahren wurde international beobachtet und gilt als schwerwiegender „Schlag gegen die Pressefreiheit“ (Dündar: 30.06.2016). Dündar hat mittlerweile die Türkei verlassen und lebt in Deutschland.

Weitere Methoden zur Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei sind Nachrichtensperren (z.B. im Zusammenhang mit dem Kurdenkonflikt) und die Übernahme von Medien. Prominentes Beispiel hierfür ist die Übernahme der Zeitung „Zaman“ im März 2016 (Mechanisms of Control 2016) Wie Matthias Meisner (30.07.2016), Redakteur des „Tagesspiegel“ berichtet, sind auch die Arbeitsbedingungen für Auslandskorrespondenten schlechter geworden. Für ihre Arbeit sei inzwischen eine Akkreditierung unerlässlich, über diese werde ausschließlich in einer regierungsnahen Behörde entschieden.  Auch seien allein sechs Einzelfälle bekannt geworden, in denen deutsche Journalisten oder andere Medienbeschäftigte mit einem Einreiseverbot belegt wurden.

Die Türkei nimmt auf der Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ 2016   Platz 151 von 180 Ländern ein (ROG Länderinformation Türkei 2016). Götz Hamann (05.08.2016) zitiert auf ZEIT Online aus einer Liste der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE): Danach wurden 20 türkische Internetseiten blockiert, 23 Radiostationen und 16 Fernsehsender abgeschaltet, 45 Zeitungen, 15 Zeitschriften und drei Nachrichtenagenturen verboten. Außerdem dürfen mehrere Dutzend Verlage nicht mehr publizieren.

Darüber hinaus wurden im Juli zahlreiche Journalisten verhaftet. ZEIT Online berichtet über Haftbefehle gegen 42 türkische Journalisten sowie gegen 47 ehemalige Mitarbeiter der Zeitung Zaman (ZEIT Online: „Regierungskritischer Journalist […]“, 28.07.2016)

Selbst wenn diese repressiven Maßnahmen einmal wieder eingestellt werden sollten, so werden sie mit Sicherheit zu einem Klima der Angst und der Unsicherheit im Presse- und Medienwesen beitragen und dafür sorgen, dass die Selbstzensur weiterhin verbreitet bleibt. Die aktuellen Entwicklungen der Monate Oktober und November zeigen, dass die Maßnahmen eher noch verstärkt werden. Damit wird die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen zwar erschwert, aber gleichzeitig notwendiger denn je.

Die Organisation Human Rights Watch

Human Rights Watch (HRW) ist eine seit 1978 bestehende Menschenrechtsorganisation mit Hauptsitz in New York. Ihre Aufgabe ist die Aufdeckung und Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen weltweit. Die Organisation finanziert sich ausschließlich aus privaten Spenden (Bundeszentrale für politische Bildung) und hat die höchste Bewertung des „Charity Navigator“ erhalten. Dabei handelt es sich um eine Institution, die amerikanische Non-Profit-Organisationen bewertet und Spendensiegel verleiht. In den Bereichen Rechenschaftslegung und Transparenz erreicht HRW hier hohe Werte (Charitiy Navigator). Auf ihrer Website stellt Human Rights Watch jährlich finanzielle Prüfberichte online (HRW: „Financials“).

Weltweit arbeiten ca. 400 Personen für HRW, darunter Juristen und Journalisten. Die Führungskräfte werden auf der HRW–Website mit Namen und Fotos vorgestellt, was für die Transparenz der Organisation spricht (HRW: „About people"). Hier findet sich auch ein kurzes Porträt von Gerry Simpson, der in dem Evrensel-Artikel zitiert wird. Er ist Anwalt und als Spezialist für Flüchtlingsfragen weltweit für HRW tätig und unterhält Kontakte zum Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR.[1] Bevor er zu HRW kam, arbeitete er mit anderen Hilfsorganisationen zusammen, wie z.B. Ärzte ohne Grenzen. In dieser Zeit war er vor allem in afrikanischen Krisengebieten tätig (HRW: „Gerry Simpson“).

HRW-Mitarbeiter erforschen Menschenrechtsverletzungen, indem sie mit Opfern und Zeugen vor Ort sprechen. Außerdem versuchen sie durch Gespräche mit Journalisten, Anwälten oder Regierungsvertretern weitere Informationen zu bekommen. Zusammen mit Menschenrechtsgruppen vor Ort bemühen sie sich darum, die Menschenrechtsverletzungen zu beenden (HRW: FAQ). Im Fall der Angriffe auf Flüchtlinge durch türkische Grenzsoldaten fanden die Gespräche der HRW-Vertreter mit Opfern und Zeugen per Mobiltelefon und mit Unterstützung eines Dolmetschers statt. Dabei wurde den Zeugen und Opfern Anonymität zugesichert. Der Bericht schildert sieben konkrete Vorfälle, bei denen Flüchtende verletzt oder getötet wurden. Das folgende Beispiel soll verdeutlichen, wie HRW an die Informationen gelangt ist und wie dies in dem Report dokumentiert wird:  

“Human Rights Watch spoke with four people about the killing of two adults, and wounding of two adults and two children near the Khurbat al-Juz-Güveççi border crossing on April 17. A survivor of the shooting described in an April 20 interview by cell phone how he witnessed the deaths of his sister and cousin (…) and how he and the other three were injured. A second brother of the dead woman confirmed her death, and two local men described helping two adults with one injured child leave the area and then retrieving the two bodies.” (HRW-Report, 10.05.2016).

In dem betroffenen Gebiet ist es sehr schwer, Informationen zu erlangen, so dass die HRW-Mitarbeiter auf Gespräche per Mobiltelefon angewiesen sind. Dass die Art und Weise, wie sie an ihre Informationen gelangten, in jedem Einzelfall genau beschrieben wird, spricht für eine transparente Arbeitsweise.

Flüchtling, Asylant, Migrant - zur Vielfalt der Bezeichnungen 

Gebrauch der Bezeichnungen in der englischen und der türkischen Sprache

In dem hier kommentierten Artikel ist von Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen die Rede, die mit dem Boot in Griechenland ankommen. Der HRW-Bericht spricht an dieser Stelle von „migrants, asylum seekers, and refugees“ (HRW-Report, 10.05.2016), im türkischen Text heißt es „göçmen, sığınmacı ve mülteciler“ (Evrensel: „Suriye sınırda […]“, 10.05.2016).

Göçmen bedeutet auf Deutsch ,Migrant‘, ,Einwanderer‘, ,Siedler‘.[2] Sığınmacı wird je nach Wörterbuch mit ,Asylsuchender‘ oder ,Asylant‘ übersetzt, mülteci mit ,Flüchtling‘, ,Emigrant‘, ,Asylbewerber‘ oder ,Zuflucht suchend‘. Orientiert man sich an den türkischen Verben, die diesen Nomen zugrunde liegen, so bedeutet göçmek ,umziehen‘, ,den Wohnort ändern‘, während sığınmak ,Schutz suchen‘ heißt. Die englischen Bezeichnungen bedeuten auf Deutsch ,Migranten‘, ,Asylbewerber‘ bzw. ,Asylsuchende‘ und ,Flüchtlinge‘. Ich habe mich bei der Übersetzung des Textes für die Formulierung „Migranten, Asylsuchende und Flüchtlinge“ entschieden. Die Begriffe ,Einwanderer‘ oder ,Siedler‘ scheinen mir weniger passend zu sein, da es sich bei der momentanen Zuwanderung nach Europa weder um eine gesetzlich geregelte Einwanderung noch um eine Besiedlung von Gebieten handelt. Der Begriff ,Asylsuchende‘ macht deutlich, dass die betroffenen Menschen tatsächlich auf der Suche nach Schutz sind und sich nicht nur um einen bestimmten Status bewerben. Die Bezeichnung ,Flüchtlinge‘ habe ich gewählt, weil er (noch) den Sprach- und Lesegewohnheiten deutschsprachiger Leser entspricht und weil durch die Verwendung differenzierterer Begriffe[3] der Lesefluss möglicherweise gestört würde.

Warum werden für Schutz suchende Personen so viele unterschiedliche Bezeichnungen verwendet? Ich denke, dass Gerry Simpson im HRW-Bericht alle drei Begriffe anführt, um deutlich zu machen, dass die Menschen in den Booten zwar aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat verlassen haben, sich nun aber alle in derselben Notlage befinden.

Gebrauch der Bezeichnungen im Zusammenhang mit Einwanderung

Wichtig sind diese Begriffe im Zusammenhang mit der Rechtsgrundlage für die Aufnahme eines Menschen in einem fremden Land. Migranten sind letztendlich alle Menschen, die in ein anderes Land umsiedeln. Jeder Staat regelt die Zuwanderung durch Gesetze, wobei die Einwanderungsländer diese Regeln immer mehr verschärfen. Darum gibt es für Menschen, die aus dem außereuropäischen Raum auf der Suche nach einer Existenzgrundlage z.B. nach Deutschland kommen, keine andere Möglichkeit zur Einreise, als einen Asylantrag zu stellen. Tatsächlich sind diese Migranten keine Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Demnach ist ein Flüchtling eine Person, „die […] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt …“[4]. An diese Flüchtlingseigenschaften sind alle Rechte nach der Flüchtlingskonvention geknüpft, z.B. auch das Verbot der Zurückweisung (Non-refoulement-Prinzip)[5]. Die 47 Mitgliedsstaaten des Europarats, unter ihnen auch die Türkei, sind darüber hinaus aufgefordert, Menschen Schutz zu gewähren, die „der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder der Bedrohung an Leben, Sicherheit oder Freiheit durch unterschiedslos wirkende Gewalt im Rahmen von bewaffneten Konflikten ausgesetzt sind.“ Diese Personen gelten dann auch nach einer Qualifikationsrichtlinie des Europäischen Parlaments in der EU als „subsidiär schutzberechtigt“ [6]. Wichtig erscheint mir, darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um verbriefte Rechte der geflüchteten Menschen handelt und keinesfalls um Hilfsleistungen, die ein Land gewähren kann, wenn es dies für wünschenswert hält.

Diskussion des Begriffs "Flüchtling" in Deutschland

In diesem Kommentar ist immer wieder von Flüchtlingen die Rede. Ich habe mich für die Verwendung dieses Begriffs entschieden, weil er immer noch der gebräuchlichste ist, allerdings wird in Deutschland derzeit darüber diskutiert, ob er möglicherweise abwertend ist. Führend in dieser Debatte ist die Linguistin Elisabeth Wehling. Sie sieht den Begriff als problematisch an, weil er einen „gedanklichen Deutungsrahmen“ aktiviere, „der in unserem Gehirn eine Reihe bewertender Schlussfolgerungen […] mitliefert“ (Wehling: 31.03.2016) Dieser nicht bewusst wahrgenommene Deutungsrahmen sei für das politische Denken und Handeln ausschlaggebend. Wehling kritisiert an dem Begriff drei Punkte:

Das Suffix –ling sei ein Diminutiv, das uns Dinge als klein denken lässt, z. B. Frischling, Keimling. Es wird oft abwertend gebraucht, wie etwa bei den Begriffen Widerling, Schönling, Schwächling.

„Flüchtling“ existiere als Begriff nur in der männlichen Form. Dies schlage sich in der Wahrnehmung des Begriffsinhalts nieder, indem unbewusst männliche Merkmale assoziiert würden, z.B. „stark“ und „gefährlich“. Dadurch fielen „Frauen und Kinder als Teil der Gruppe gedanklich zunächst einmal unter den Tisch“ (Wehling: 31.03.2016).

Der Begriff konzentriere sich zu stark auf das Flüchten im Sinne des Sich-weg-Bewegens und vernachlässige die Elemente des Vertrieben-Werdens und des Schutz-Erhaltens. Letztere betonten eher die Aspekte der Fluchtursache und der notwendigen Hilfe.

Wehling schlägt vor, statt vom Flüchtling eher vom Geflüchteten oder vom Flüchtenden zu sprechen oder, wenn man den Ursachen- und Hilfeaspekt betonen möchte, von Vertriebenen bzw. Schutzsuchenden (Wehling, Interview:12.03.2016).

Ich denke, Wehling hat hier eine wichtige Debatte angestoßen. Wenn eine Gesellschaft sich damit auseinandersetzt, welcher Begriff die Lage von Menschen auf der Flucht am besten beschreibt, setzt sie sich auch mit der Situation der Betroffenen auseinander. Das kann sich positiv auf das Zusammenleben zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern auswirken.

 

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[1] United Nations High Commissioner for Refugees.

[2] Der besseren Lesbarkeit halber sind hier, wie im gesamten Kommentar, nur die männlichen Formen genannt.  

[3] Beispiele siehe Punkt unter "Diskussion des Begriffes in Deutschland".

[4] Art. 1 A Abs. 2 GFK, zitiert nach: Schmalz (2015).

[5] Ebenda.

[6] Ebenda.

 

 

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