Aus den Lieder über mein geliebtes Land
Lea Goldberg, Aus den Liedern über mein geliebtes Land
aus dem Hebräischen von Gabrielle Oberhänsli-Widmer
1
Heimat, meine Heimat, armes majestätisches Land –
die Königin hat kein Haus, der König keine Krone.
Sieben Tage im Jahr nur dauert der Frühling,
alle übrigen herrschen Schauer und Regen.
Diese sieben Tage jedoch blühen die Rosen,
diese sieben Tage glitzert der Tau,
diese sieben Tage sind die Fenster weit offen,
und auf der Strasse stehen all die bleichen Bettler
und all diese Bettler sind froh.
Heimat, meine Heimat, armes majestätisches Land –
die Königin hat kein Haus, der König keine Krone.
Sieben Tage im Jahr nur dauern Feste und Feiern,
alle übrigen herrschen Hunger und Mühsal.
Diese sieben Tage jedoch liegt Segen auf den Lichtern,
diese sieben Tage sind die Tische gedeckt,
diese sieben Tage sind die Herzen weit offen,
und alle Bettler stehen vereint im Gebet,
und all deine Söhne und Töchter werden Bräutigam und Braut,
und all deine Bettler werden Brüder.
Meine arme, elende, bittere Heimat,
der König hat kein Haus, die Königin keine Krone –
eine einzige auf der Welt wusste von deinem Ruhm zu berichten
alle übrigen nur von deiner Schmach und Schande.
Deshalb werde ich überall hingehen, in jede Strasse, in jede Ecke,
auf jeden Markt, in jede Gasse und in jeden Garten,
um jeden kleinsten Stein aus den Trümmern deiner Mauern
zu sammeln und als Andenken zu hüten.
Und so werde ich wandern mit Lied und Leierkasten
von Stadt zu Stadt, von Land zu Land,
um von deiner strahlenden Armut zu künden.
Lea Goldberg, Mi-schire erez ahavati, in: dies., Schirim (Gedichte), herausgegeben von Tuvia Rübner, Band 2, Bnei-Brak 2008, 199.