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Lea Goldberg

Lea Goldberg (1911-1970)

Gabrielle Oberhänsli-Widmer

Im Rahmen eines Seminars mit dem Titel "Das literarische Werk der Lea Goldberg (1911-1970)" habe ich im Sommersemester 2010 mit meinen Studierenden Teile des umfangreichen Oeuvres der bedeutenden israelischen Autorin analysiert. Während der Name Lea Goldberg in Israel beinahe jedem Kind vertraut ist, sagt er in Europa selbst einem beflissenen Lesepublikum wenig, da das hebräische Werk der begnadeten Dichterin, Übersetzerin, Literaturwissenschaftlerin und Kinderbuchautorin nur bruchstückhaft in Übersetzungen vorliegt.1
Lea Goldberg wurde 1911 im ostpreusssischen Königsberg geboren und verbrachte ihre frühe Kindheit im litauischen Kovno. Ihre Muttersprache war Russisch, die Sprache, in der sie auch als Jugendliche ihre ersten Gedichte schrieb. Während des Ersten Weltkrieges wurde Leas Familie von Litauen nach Russland deportiert, ihr Vater unter dem unbegründeten Verdacht der Spionage schwer misshandelt. Folgen dieser Folterung waren andauernde Wahnvorstellungen sowie eine zunehmende Demenz des Vaters und schliesslich die Scheidung der Eltern, Traumata, die Lea Jahre später in ihrem autofiktionalen Roman Und er ist das Licht gedanklich zu bewältigen suchte.2 Als Tochter aus gutbürgerlichem jüdischem Haus, besuchte Lea das Hebräische Gymnasium in Kovno, wo sie fliessend Hebräisch und Deutsch lernte. Ebenfalls in Kovno begann sie ihr breit gefächertes Studium der Geisteswissenschaften, das sie später in Berlin fortsetzte und 1935 in Bonn mit einer Dissertation zum Thema Das samaritanische Pentateuchtargum. Eine Untersuchung seiner handschriftlichen Quellen abschloss. 1935, unmittelbar nach Abschluss ihrer Promotion verliess Lea Goldberg Deutschland und wanderte ins damalige Palästina ein. In dieser Zeit, 25-jährig, verfasste sie den kleinen Roman Briefe von einer imaginären Reise, das einzige ihrer Werke, das gesamthaft in deutscher Übersetzung vorliegt, ein Briefroman, der unverhohlen Zeugnis von der Schmerzhaftigkeit des Abschieds von Europa ablegt.3 Von 1935 bis 1952 lebte Lea zunächst als Autorin, Journalistin, Editorin und Beraterin des Ha-Bima-Theaters in Tel Aviv. 1952 siedelte sie nach Jerusalem über, wo sie an der Hebräischen Universität zunächst zur Lektorin für europäische Literatur und 1963 zur Professorin für Komparatistik berufen wurde, eine Aufgabe, die sie bis zu ihrem Tod 1970 wahrnahm.
Angesichts der Tatsache, dass Lea Goldberg nicht einmal sechzig Jahre alt wurde, ist ihr Werk überaus reich und breit: Von den literaturwissenschaftlichen Publikationen einmal abgesehen, veröffentlichte sie zehn Lyrikbände,4 zwei Romane, zahlreiche Erzählungen5 und Kinderbücher, die sie mehrfach selber illustriert hat,6 sowie ein Theaterstück;7 posthum erschienen sind zudem die Briefe und ein Tagebuch.8 Darüber hinaus öffnete sie dem israelischen Lesepublikum zahlreiche Fenster in die Weltliteratur, übersetzte sie doch Dante, Petrarca, Shakespeare, Molière, Tolstoi, Tschechov, Ibsen, Strintberg, Brecht und Nelly Sachs ... – um nur ein paar der ganz klingenden Namen zu nennen. Neben solcher "Höhenkammliteratur" war Lea Goldberg jedoch ebenso auf der Suche nach besonderen trouvailles, nach versteckteren literarischen Kostbarkeiten, und übertrug so beispielsweise auch Kinderlieder aus dem Ghetto Theresienstadt ins Hebräische9 oder das anonyme altfranzösische Singspiel Aucassin et Nicolette10 ein reizender Text, der sonst wohl kaum einen Weg zu Leserinnen und Lesern in Israel gefunden hätte.
Mithin war Lea Goldberg Zeit ihres Lebens akademisch, kulturell und durch ihr Übersetzungswerk überaus bedeutungsvoll. Ebenso ist sie heute noch als Autorin sowohl in der klassisch hebräischen Lyrik11 als auch in israelischer Folklore präsent.12 Und wie eingangs angedeutet, sind ihre Kinderbücher und Lieder aus israelischen Kindergärten und Kinderzimmern nach wie vor nicht wegzudenken. Posthum, in ihrem Todesjahr 1970, wurde Lea Goldberg denn auch mit dem Israel-Preis die höchste Auszeichnung des Staates zuteil.13
Um einem deutschen Lesepublikum einige Kostproben von Lea Goldbergs ganz spezifischer Schreibweise zu vermitteln, stellen wir hier ein paar unserer Übersetzungen vor, die uns als Vorlage für die Textanalysen gedient haben: Geschichten und Gedichte, die in einfachen Fassungen die Juwelen der Weltliteratur ebenso wie die Schätze des traditionellen hebräischen Schrifttums auf innovative Weise in sich vereinen.



1 Einen Überblick über die Übersetzungen der Werke Lea Goldbergs bietet die Homepage des Institute for the Translation of Hebrew Literature: www.ithl.org.il/author_info.asp?id=98 (Stand vom 16. Juni 2010).

2 Lea Goldberg, We-hu ha-or (Und er ist das Licht), Bnei-Brak 2005 (Originalausgabe1946; hebr.).

3 Lea Goldberg, Briefe von einer imaginären Reise, aus dem Hebräischen von Lydia Böhmer, Frankfurt a.M. 2003 (hebräische Originalausgabe unter dem Titel Michtavim mi-nessia meduma 1937). Zur Skizzierung des Textes vgl. Gabrielle Oberhänsli-Widmer, Klassiker der jüdischen Literatur: Lea Goldberg: Briefe von einer imaginären Reise (1937), in: Kirche und Israel 25/2, 2010 (im Druck).

4 Inzwischen liegt das lyrische Gesamtwerk vor unter: Lea Goldberg, Schirim (Gedichte), herausgegeben von Tuvia Rübner, 3 Bände, Bnei-Brak 2008 (hebr.).

5 Lea Goldberg, Kol ha-sippurim (Gesammelte Erzählungen), herausgegeben von Giddon Ticotsky und Hamutal Bar-Yosef, Bnei-Brak 2009 (hebr.).

6 Mehrere Kinderbücher liegen in neuen Editionen und teilweise auch neu illustriert vor, davon hier nur ein Ausschnitt besonders bekannter Titel: Lea Goldberg, Kova‘ qsamim (Ein Zauberhut), Bnei-Brak 2005 (hebr.); dies., Ha-jeled ha-ra‘ (Das üble Büble), Bnei-Brak 2005 (hebr.); dies., Dira le-haskir (Wohnung zu vermieten), Bnei-Brak 2007 (hebr.); dies., Mas’ot Mor ha-chamor (Die Reisen des Esels Mor), Bnei-Brak 2007 (hebr.); dies., Ha-mefusar mi-kfar Asar (Der zerstreute Mensch aus dem Dorf Azar), Bnei-Brak 2007 (hebr.).

7 Lea Goldberg, Ba’alat ha-armon (Die Schlossherrin), Bnei-Brak 1990 (Originalausgabe 1956; hebr.).

8 Lea Goldberg, Michtavim we-joman (Briefe und Tagebuch), Massada 1978 (hebr.).

9 En parparim po. Zijjurim we-schirim schel jalde Getto Theresienstadt 1942-1944 (Hier gibt es keine Schmetterlinge. Zeichnungen, Lieder und Gedichte von Kindern aus dem Getto Theresienstadt 1942-1944), herausgegeben von Hanna Wolkow und Abba Kovner, ins Hebräische übertragen von Lea Goldberg, Tel Aviv 2002 (1966; hebr.).

10 Aucassin we-Nicolette, tirgema min ha-maqor ha-zarfati we-zijjera Lea Goldberg (Aucassin und Nicolette, aus dem französischen Original übersetzt und illustriert von Lea Goldberg), Jerusalem 1966 (hebr.).

11 Nur einen kleinen Einblick in die Sekundärliteratur, die insbesondere das poetische Werk Lea Goldbergs würdigt, sollen hier folgende ausgewählte Titel geben: Harold Schimmel, Lea Goldberg the poet, in: Orot 10, Jerusalem 1971, S. 21-27; Tuvia Rübner, "Mit dieser Nacht und all ihrem Schweigen". Lea Goldberg (1911-1970), in: Norbert Oellers (Hg.): "Manche Worte strahlen". Deutsch-jüdische Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, Erkelenz 1999, S. 83-109; Yoseph Milman, Screaming words into the white. The poetics of fragmentation in Leah Goldberg's end-of-life poetry, in: Hebrew Studies 45, 2004, S. 79-97.

12 Nach wie vor vertonen namhafte israelische Chansoniers und Sängerinnen Lea Goldbergs Gedichte; zwei ausgewählte Tonträger der jüngern Zeit sind Mi-schire Lea Goldberg (Aus Lea Goldbergs Gedichten), Phonokol 2005; Ani holechet elaj (Ich geh zu mir) – Lea Goldberg: Selected Songs, NMC 2007.

13 Von den verschiedenen biographischen Studien zu Lea Goldberg ist insbesondere die umfassende Monographie von Tuvia Rübner zu nennen: Tuvia Rübner, Lea Goldberg, Tel-Aviv 1980 (hebr.).



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