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Das schwarze Wunder - die schwarze Flagge

Lea Goldberg, Das schwarze Wunder – die schwarze Flagge

aus dem Hebräischen von Katharina Krepuska


Weil er täglich auf dieser breiten Terrasse sitzt, welche sich zum Meeresspiegel hin öffnet, pflegte er seinen ersten Blick nicht aufs Meer zu schicken.
An den quadratischen Tischen und Stühlen vorbei, erblickt er als erstes ein Tuch, das sich wie ein Dach über die Terrasse spannt, sich in weissen und roten Streifen in den verglasten Tischen widerspiegelt. Danach erfasst sein Ohr das leise und klare Lied von klirrenden Kaffeelöffeln, die an die Tasse tippen. Er sitzt und schließt für einen Moment seine Augen und versucht sich selbst zu überzeugen, dass es trotz allem, einen Unterschied gibt zwischen diesem Tag und dem vorher gegangenen Tag.
Erst nachdem er die behutsamen Schritte des Kellners hört, wird eine dampfende Tasse Kaffee an seinen Tisch serviert und er vernimmt, wie der rötliche und breit gebaute Kellner dem schwarzen und mageren Kellner befiehlt:
"Die Zeitungen zu Doktor Nadinia!"
Er beginnt den Strand und das Meer zu beobachten und sein Blick wandert vom Nahen in die Ferne. Zwischen unzähligen Badenden wählt er für sich selbst, die Gestalt eines schlanken Mädchens, das an der Brandung spaziert und begleitet sie mit den Augen eines alternden Mannes, der sich schon in seinen jungen Jahren seines Einflusses auf Frauen nicht sicher war. Und als sie schließlich ihren Körper ins Meer gleiten lässt, verliert der Blick Nadinias sie in der Weite des Wassers. Er seufzt melancholisch und erleichtert zugleich und seine Augen, hängen sich an die Segel der entfernten Boote. Dann sieht er am Horizont das legendäre Jaffo, luftig und fest in Einem, die Schiffe in den Häfen. An den beiden Enden der Stadt schaukeln jene Schiffe, fest getaut und strecken ihre Masten bedrohlich gegen den Himmel und es erscheint ihm, dass Jeder von ihnen versucht die Existenz des Anderen zu ignorieren, des Feindes. Und die Luft des heimatlichen Meeres beginnt ihn zu würgen. Er senkt seinen Kopf und vertieft sich in seine Zeitungen und Notizen.
Aber heute hat es keine Schiffe in den Häfen und auch die Gestalt des schlanken Mädchens taucht nicht auf am Strand. Das Meer ist grau-grüne und sehr klar und die sehr scharfe Linie des Horizontes unterscheidet zwischen dem Meer und dem hell-bleichen Himmel. Eine schwarze Flagge weht oben auf dem weißen Sand, gegen den Sturm am Meer. Schwarz und einsam wie ein Rabe. Israel Nadinia betrachtet lange die Flagge, als ihm plötzlich deutlich wird, die Doppeldeutigkeit des hebräischen Nes Schachor1:
"Schwarze Flagge"- denkt Nadinia- "Die schwarze Flagge - Das schwarze Wunder, diese Wörter drücken mein Leben besser aus, als alles was ich bisher geschrieben."
Und hier sitzt er, der Schriftsteller Israel Nadinia, der zwei russische Revolutionen überstanden hat und eine deutsche, Weltkriege und den hebräischen Bürgerkrieg.
Auf dem Weg hat er die Meisten seiner Freunde verloren. Auch die Söhne seiner Freunde. Und er wurde nicht mal verletzt. Und hier sitzt er am Strand der Heimat, die er gewählt hat.
Er sitzt und denkt: "Die schwarze Flagge, das schwarze Wunder." Während er überlegt klingt der Name Agatha in seinem Ohr, er erinnert sich, denn das Symbol der schwarzen Flagge ist ebenso im Klang dieses Namens verschlüsselt: Agatha. Fast genauso benannt in fremden Sprachen, der Edelstein: Agatha-Achat2.
Der Brief, der in seiner Hemdtasche steckt, beginnt sein Herz zu beschweren und er klammert sich plötzlich an eine kindisch-alberne Hoffnung, dass heute etwas geschieht, dass Anschel Dor auf dem Weg zum Meer auf Leute trifft, die ihn aufhalten und dass, er nicht kommt.
Aber nachdem der Zeiger der Uhr, der langsam seine Runde dreht, fünf Minuten nach Sechs anzeigt, erscheint unter der gesprenkelten Kuppe der Terrasse des Cafés, die Gestalt von Anschel Dor.
Nadinia sieht das silberne Haar über dem braungebrannten Gesicht, welches das Alter widerspiegelt, den langen Körper, der etwas nach vorne gebeugt ist, in einem schwarzen Anzug gekleidet, die dunkle Krawatte auf dem hellen Hemd. Wie lange er Anschel Dor auch betrachtet, er kann nicht verstehen: Wieso erinnert ihn das Bild seines Freundes, gekleidet in elegante Kleider, alle in einer modischen Art geschneidert, an jemanden aus dem letzten Jahrhundert?
Seine Schritte sind sehr langsam. Als er den Tisch erreicht, hat Nadinia das Gefühl, heute mehr als je zuvor, dass er, Israel Nadinia, das Rauschen des Meeres hört.
Dor setzt sich und lächelt ein entschuldigendes Lächeln. Sein Lächeln ist das eines Mannes, der weiss, dass seine Gesellschaft selbst die Menschen belastest, die ihm am Nächsten stehen. Selbstverachtend sagt er:
"Generationen kommen Generationen gehen, aber die Erde besteht für immer."3
"Und was sind die Neuigkeiten des Dors?", fragt Nadinia und versucht seine Stimme etwas zu heben.
"Was?", antwortet er.
"Ich fragte, ob es etwas Neues gibt?" schreit Nadinia.
Er antwortet mit einer verzweifelten Geste, die davon zeugt, dass er nicht hört.
Nadinia schreibt seine Frage auf ein Papier.
Es fällt ihm schwer sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass sein Freund seinen Gehörsinn verliert.
Viele Generationen von Musikern stehen hinter Anschel: Sein Vater baute Geigen, deren Herkunft "Klezmer" berühmt waren in den Städten Galiciens.
Seine christliche Mutter stammt aus einer alten Orgelbauerfamilie. Er selbst war Dozent der Ornithologie an der Universität Köln. Er kannte die verschiedenen Stimmen der Vögel unterscheiden. Und nun sitzt er hier und kann nicht hören. Kann selbst keinen Schrei hören.
"Es gibt nichts Neues" antwortet Dor, "Ich bekomme keine Briefe. Agatha schreibt nicht."
Nadinia ist stumm. Und blickt aufs Meer. Seine Hand berührt den Brief durch die Hemdtasche. Eine Weile berührt er den Brief, in ihm die Nachricht, die enthält, dass Agatha, die Stieftochter von Anschel, im Alter von Neunzehn, ein süßes, ernstes Baby, sich in Wien das Leben genommen hat vor zehn Tagen. Nadinia zögerte und senkte seine Hand, in ihr die leere Kaffeetasse. Nein. Nicht jetzt. Noch nicht.
"Ein Hund schwimmt im Meer", sagt Dor. - "Er fühlt die Gefahr nicht. Er sieht die schwarze Flagge nicht." "Auch wir sind nicht immer in der Lage sie zu sehen", schreibt Nadania auf ein Papier. (Vielleicht kann ihm dieser Hinweis helfen, die schlechte Nachricht zu übermitteln?) Dor lächelt: "Ja, sogar die sensibelsten unter uns, sogar du."
Nadinia zuckt mit der Schulter. Er versteht den Sinn des Gesprächs seines Gesprächspartners nicht. "Ich wollte dir schon lange etwas erzählen", fährt Dor fort, "aber meine Schüchternheit verhinderte es. Eine seltsame Schüchternheit zwischen Freunden und vielleicht auch mehr als das. Du bist immerhin in meinem Alter und mein Freund. Und sie ist fast wie meine Tochter, wie auch immer, ich erhielt die Einreiseerlaubnis für sie, sie kommt in zwei bis drei Wochen, ich muss dir ihr Geheimnis erzählen..."
Ein nervöses Zucken durchläuft Nadinias Gesicht, und obwohl er den Fortgang der Geschichte nicht erraten kann, versucht er seinen Freund zu stoppen. Mit einer schnellen Handbewegung. Aber Dor bemerkt es nicht. "Immer wieder schaute ich dieses Geschöpf an. Als ich Alice zu meiner Frau nahm, war Agatha Fünf, beim Tot von Alice war sie im Alter von Zwölf. Vor meinen Augen reifte ihr Körper. Ihre Gefühle reiften. Und nur Dank ihr weiss ich, was Erwachsenwerden bedeutet. Weil ich selbst meine Entwicklung nicht sah, dazu keine Freizeit hatte. Außer mir kannte ich nur Vögel. Und ich war der Erste, der ihre kindische Verliebtheit zu ihrem Lehrer in der Schule bemerkte und ich war der Einzige, der ihre Zuneigung zu dir entdeckte..."
"Zu mir?"- Nadinia springt auf von seinem Platz. Heiße Röte überzieht sein Gesicht und Angst fährt in seine Knie. Die starke Hand seines Freundes zieht ihn zurück in den geflochtenen Sessel.
"Setz dich, setz dich" grinst Dor. "Du hast die schwarze Flagge, die vor deinem Meer gehisst ist, nicht gesehen. Die schwarze Flagge - das schwarze Wunder. Wieder zeigt sich ihm die Wortbedeutung. Und die doppelte Bedeutung in ihr, lähmt seine Gedanken für einen Moment.
"Sie hat sehr gelitten sehr, das Mädchen, Jahre, wegen dir studierte sie mit einem solchen Eifer die hebräische Sprache. In deinen Büchern suchte sie trost und fand ihn offensichtlich nicht.
Bevor wir uns trennten, eröffnete sie mir...um ehrlich zu sein...war es schon sehr schwer für mich ihre Beichte zu hören, bist du doch in meinem Alter und mein Freund. Und ich dachte, diese Krankheit zieht vielleicht vorüber. Ich redete auch auf sie ein, versuchte ihr zu beweisen, dass...verzeih mir...das es keinen Sinn hat. Aber in ihrem letzten Brief vor zwei Wochen, (sie wusste noch nicht, dass sie herkommen kann) schrieb sie mir von dir und ich wusste, dass ihre Liebe stärker war als wir Zwei, ihr Zwei, wir Drei und ….jetzt...ach ist sie nicht jung und schön...du mochtest sie doch schon immer...und du....."
Er verstummt. Verlegen. Seine Hand drückt die Zigarette aus. Nadinia fühlt wie sich in seinem Inneren Liebe und Tod sich miteinander verbinden. Große Wärme und große Kälte und etwas, das anscheinend hätte Wirklichkeit werden können, am Ende seines Weges. Und nun zu seiner Wirklichkeit jenseits von hier geworden war, am Ende des Weges von jemand anderem. Er kann nicht mehr schweigen.
"Aber sie ist tot" seine Stimmte bricht.
"Was sagst du?" fragt Dor?
Aber da es unmöglich ist, das Wort Tod zu schreien und es unmöglich ist, es auf einen Zettel zu schreiben, wie irgendein anderes beliebiges Wort, wiederholt Nadinia seine Worte nicht. Und sie sitzen sich gegenüber, schweigend, eine lange Zeit. Die Sonne geht unter, der Abend kommt.
Die Dunkelheit flattert vor dem Wasser, schwarz und feierlich, die Flagge wie ein Wunder.

(1938)




1 Das hebräische Wort "nes" bedeutet sowohl "Flagge" wie "Wunder".
2 Der Achat ist ein schwarzer Quarzstein
3 Das Zitat von Kohelet 1, 4 spielt mit dem Nomen "Dor" (hebr. "Generation") und dem Namen "Dor" des Autors.


Lea Goldberg, Ha-nes ha-schachor, in: Turim 12, 1938, 3; nachgedruckt in: Lea Goldberg, Kol ha-sippurim (Gesammelte Erzählungen), herausgegeben von Giddon Ticotsky und Hamutal Bar-Yosef, Bnei-Brak 2009, 60-64.



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