Die Schlossherrin
Lea Goldberg, Die Schlossherrin
aus dem Hebräischen von Mirjam Tenbuß
Ein Drama in drei Akten
Personen:
Michael Sand: Bibliothekar aus Erez Israel, etwa 40 Jahre alt.
Dr. Dora Ringel: Arbeiterin in der „Jugendalia“, etwa 40 alt.
Zabrodsky: Hüter des Schlosses, 57 Jahre alt.
Lena: 19 Jahre alt.
Ort: Ein altes Schloss in einem Land Zentraleuropas.
Zeit: Zwei Jahre nach dem zweiten Weltkrieg (September 1947)
Bühnenbild: Das Bühnenbild bleibt in allen drei Akten dasselbe.
Der Erste Akt findet abends zwischen neun und zehn Uhr statt, der Zweite zwischen zehn und elf Uhr und der Dritte zwischen elf und zwölf Uhr Mitternacht.
Der israelische Bibliothekar Michael Sand, der in alten Bibliotheken nach jüdischen Büchern für die Jerusalemer Bibliothek sucht und die Jugendaliah-Agentin Dora, deren Aufgabe es ist jüdische Kinder ausfindig zu machen und nach Israel zu bringen, treffen in einem Schloss auf den ehemaligen Schlossbesitzer Zabrodsky, der nach der Nationalisierung von Privatbesitz bloß noch ein entmachteter Graf und der Hüter des Schlosses ist. Beim Durchstöbern der Schlossbibliothek nach jüdischen Büchern, stoßen Sand und Dora, beide etwa vierzig Jahre alt, auf die neunzehnjährige Lena. Als jüdische Überlebende wurde sie von ihrem Lebensretter, dem 57jährigen Zabrodsky in einem geheimen Zimmer vor den Nazis versteckt, denen das Schloss während des Krieges als Hauptquartier diente. Zwischen dem jungen Mädchen und dem Grafen entwickelte sich eine erotisch-romantische Beziehung, die das Kriegsende überdauerte, da Zabrodsky auf Grund seiner Zuneigung zu Lena ihr nichts von der Befreiung verriet. So erfährt das jüdische Mädchen mit zwei Jahren Verspätung aus dem Mund zweier Israelis vom Ende des Krieges und wird vor die Wahl gestellt: bleiben oder gehen. Diese Fragestellung bestimmt das gesamte Stück, das sowohl auf einer universalen als auch auf einer jüdischen Ebene spielt und unterschiedlichste Lebensentwürfe vorstellt und diskutiert. Vor allem bewegt sich das Theaterstück zwischen Holocaust und Zionismus. Schon bevor Lena im Stück auftaucht, drehen sich die Diskussionen der Personen um die Vor- und Nachteile, Unterschiede und Gegensätze zwischen Europa und Israel, wobei zionistisches Gedankengut aufgenommen wird. Europa, das Schloss und Zabrodsky verkörpern das antike Europa und damit nicht nur den Adel, das Altertum, die Feudalherrschaft, Kunst und Bildung, sondern auch den Holocaust, den Antisemitismus und den Tod. Israel hingegen verkörpert Moderne, Gleichberechtigung und Leben, aber auch Vereinheitlichung, eine Gesellschaft der Massen und die Möglichkeit eines unerfüllten Versprechens.
1. Akt
Da es draußen stürmt, bitten Dora und Sand den Grafen um eine Übernachtungsmöglichkeit im Schloss, der nach langem Zögern und offenkundigem Unwillen einlenkt. Dora ist von dem Gedanken, die Nacht im Schloss zu verbringen, nicht sehr begeistert. Sand hingegen entzückt die Idee, die Nacht in der Schlossbibliothek zu verbringen.
Sand
zu Dora) Siehe, so wirft uns das Leben umher, nicht wahr? Kriege, Stürme, Unwetter… und immer fällt man jemand anderem zur Last, ungewollt, ohne jegliche Absicht. (zu Zabrodsky) Warum setzen Sie sich nicht, mein Herr? (Zabrodsky bleibt stehen, zu Dora) Ohne jede Vorahnung bricht man in eine Welt ein, die nicht die Seine ist und findet sich plötzlich in ihr gefangen. (schaut sich im Zimmer um) Aber welch wunderbare Gefangenschaft. Ich würde mich glücklich schätzen, in dieser Bibliothek mehrere Monate zu verbringen… mit all diesen Büchern, all diesen Gemälden...
Dora
(zu Zabrodsky) Seien Sie unbesorgt, mein Herr, immer wenn er Bücher sieht, kann er sich nicht mehr von ihnen trennen. Aber wir werden Sie nicht länger belästigen als unbedingt notwendig. Dafür werde ich Sorge tragen. Bei Morgendämmerung werden wir uns auf den Weg machen. Ich muss früh zurück in die Stadt.
Zabrodsky
(entgegenkommend) Aber nicht doch, nicht doch... Ich hoffe ihr werdet euch wohlfühlen... Tadelt mich nicht für die Unhöflichkeit. Viele Jahre ist es her, dass ich im Schatten dieser Mauern Gäste empfing. Lebt man alleine im Wald, wird man am Ende unzivilisiert und vergisst die gängigen Höflichkeitsformen.
Nach einer längeren Unterhaltung über die Unterbringung von Sand und Dora und ihre Berufs- und Lebenswege, wendet sich das Gespräch der drei auf den Vergleich des alten Schlosses als Sinnbild des Altertums und dem traditionsbewussten Judentum.
Sand
Mein Großvater war ein armer Jude. Ein Uhrmacher, wie mein Vater. Aber auch er besaß Bücher, die er von seinem Vater geerbt hatte.
Zabrodsky
Ja, ich kenne solch alte Juden... (schweigt, betrachtet die Bücher und den Raum). Nicht wohnlich genug! Sehen Sie, mein Herr, auch zu Ihnen ins Heilige Land, in eurer Jerusalem, mag einer kommen und sagen: „All dies mag sehr schön sein, aber nicht zum Leben! Das ist Geschichte, Archäologie, Erinnerungen an das, was früher war… aber nicht zum Leben!“ Aber gerade ihr, die Juden, behauptet ihr nicht, dass kein Land besser ist zum Leben als das Eure? Genau genommen, weil es dort eine Verbindung gibt zur Tradition der Väter. Ja, vielleicht ist dies der Grund, warum ich mein Schweigen heute Nacht brach und mit euch sprach. Ich denke, dass die Juden heutzutage die Einzigen auf der Welt sind, die die Bedeutung von Tradition und Brauchtum verstehen.
Sand
Dies ist bereits das zweite Mal an diesem Abend, mein Herr, dass Sie mich mit der Kenntnis von unserem Volk erstaunen.
Zabrodsky
Meine Kenntnisse sind wenige. Aber ich habe das jüdische Volk stets dafür bewundert, dass es den Nichtigkeiten dieser Welt nicht unterliegt und seine Fahne nicht nach dem Wind hängt, sondern seinem Weg treu bleibt. Ich habe dieses Volk gesehen, ihre Qualen während dieser Jahre, ich habe es gesehen.
Dora
Sie waren nicht der Einzige, der es gesehen hat, mein Herr. Die ganze Welt hat es gesehen. Sie sahen es und schwiegen und hoben nicht einmal einen Finger!
Zabrodsky
Die Welt? Aber was können Sie von einer solchen Welt erwarten? Taub, blind und unbeschnittenen Herzens. Und die Toten wandeln unter den Lebenden. Ich war zuerst unter den Toten. Wie es geschrieben steht in der Offenbarung des Johannes: „Der letzte, der tot war, lebt“ – das bin ich.
Dora
(schweigt, wirft Sand einen fragenden Blick zu)
Zabrodsky
Dies ist nicht Mystik. Dies sind bloße Fakten, die wir alle bezeugen können… Was ist denn das Zeichen des Lebens, meine verehrte Dame, mein Herr? Lebt der Mensch, der isst, trinkt und sich bewegt? Mitnichten! Wie viele Tote wandeln unter uns auf dieser Erde, schlafen nachts und erwachen am Morgen. Sie sind tot und wissen es nicht. Ich zumindest wusste es. Das Leben, wissen Sie, bedeutet Teil zu haben an den Taten dieser Welt, getrieben von Liebe, Hass oder Begierde – aber ohne dies ist es Tod. Spreche ich nicht die Wahrheit?
Nachdem Zabrodsky im weiteren Verlauf des Gespräches seine eigene Geschichte erzählt und Dora ihn der Zusammenarbeit mit den Nazis verdächtigt, stellt sich vielmehr heraus, dass Zabrodsky sogar in Erez Israel für seine Heldentat – die Auslieferung der Nazis an den Untergrund – als „Der Graf“ bekannt ist.
Zabrodsky zieht sich nach weiteren Anschuldigungen Doras schließlich zurück, woraufhin zwischen Sand und Dora eine Diskussion über ihn, die Vergangenheit und die Rolle des alten Europas entfacht.
Sand
Die ganze Diskussion ist überflüssig. Sie bringt niemanden auf der Welt auch nur ein kleines Stückchen weiter. Seine Stimme ist ein Rufen aus der Vergangenheit, seiner Vergangenheit. Er lebt in ihr. Er liebt sie. Gewähr es ihm. Wir entstammen bereits einer anderen Zeit und einem anderen Ort. Das ist alles.
Dora
Und demzufolge sagst du das Kaddisch und trauerst am Grab dieser glänzenden Vergangenheit Gott anflehend, dass er sie wieder auferstehen lasse! Oder wie?
Sand
Das Kaddisch sagen die Söhne. Ich bin nicht der Sohn des Grafen. Ich bin, wie dir bekannt ist, der Sohn eines jüdischen Uhrmachers.
Dora
Welche Inspiration!
Sand
Ich scherze nicht. Ich meine das vollkommen ernst. Ich bin der Sohn eines Uhrmachers und es ist für mich von höchstem persönlichem Interesse, dass die Zukunft in den Händen von Uhrmachern und ihrer Kindeskinder liege.
Dora
Aber du bist völlig eingenommen von dieser Vergangenheit.
Sand
In der Vergangenheit, meine Liebe, liegen viele der Dinge, die die Söhne von Uhrmachern wissen und sogar lieben sollten. Auch in Zabrodskys Vergangenheit. Was wir aus dieser Vergangenheit übernehmen wollen – das entscheiden wir für uns selbst. Aber mit ihm darüber streiten? Das möchte ich nicht. Warum sollte ich? E r hat das Recht zu lieben, was er liebt und zu hassen, was er hasst. Verstehst du nicht, Dora, dass es ihm auferlegt ist nun diese so stolzen und bitteren Worte zu wählen? Das ist sein Ende, sein Grabstein. Und wir... Wir sind viele – deshalb können wir es uns leisten, mittelmäßige Menschen zu sein und im Stillen zu erfüllen, was uns auferlegt ist.
Dora
Ah, Ich verstehe nichts von dieser Philosophiererei! Ich bin erschrocken, einfach gänzlich erschrocken darüber, dass ich derart sentimental bin gegenüber dieser untergehenden Welt. Ich war ihr näher als du. Und ich weiß, dass ihre Gefahren noch nicht vorüber sind.
Sand
Gefahren!
Dora
Ja! Wenn du Tag für Tag mit Kindern zu tun hast, die sich in Häusern fremder Familien versteckt halten, in Klöstern – würdest du sehen wie diese „Schönheit“ sie immer noch fest in ihren Klauen hält! Kannst du dir überhaupt ausmalen, was ich jeden Tag durchmache? Ein ständiger Kampf. Die Toten greifen, mit skelettartigen Fingern, nach lebenden Kindern, und ziehen sie hinunter ins Grab.
Nachdem sich nun auch Dora zurückzieht, begutachtet Sand die Kuckucksuhr, dreht an ihr und durch einen geheimen Mechanismus erscheint plötzlich Lena im Zimmer, die gänzlich erschrocken ist.
2. Akt
In Lenas Welt ist immer noch Krieg, da sie vom Kriegsende auch zwei Jahre nach diesem nichts weiß.
Lena
Ich bin nicht jüdisch. Ich.. ich bin die Schlossherrin. Ich bin nicht jüdisch. Sie können den Grafen fragen...
Sand
Aber ich bin jüdisch.
Lena
(hebt ihren Kopf, schaut ihn an) Sie – vielleicht stimmt das – jüdisch. Möchten Sie Sich verstecken? Kommen Sie, ich werde Sie verstecken… Ich zeige Ihnen den Ort. Der Graf wird einverstanden sein. Er hat hier schon einmal Juden versteckt. Sie werden Sie nicht finden.
Sand
Vor wem verstecken? Ich kam nicht hierher, um mich zu verstecken. (Schweigen) Ich werde gehen und Zabrodsky rufen. Warte hier, ich komme sofort wieder.
Lena
Rufen Sie ihn nicht. Er ist unschuldig. Er hat mich gerettet. Und jetzt sitzen sie unten bei ihm. Sie werden Sie beide töten – uns drei...
Sand
Wer – sie?
Lena
Die Offiziere – die Generale – die Nazis...
Sand
Hör zu, Mädchen... Ich bin Bibliothekar... Ich bin aus Israel... Ich tue niemandem etwas Böses. Hör gut zu, was ich dir jetzt sage: Es gibt keine Nazis mehr. Genauso wenig wie deutsche Generäle. Ich kam hierher um jüdische Bücher zu suchen... Ich... Ich beabsichtige nicht, dir weh zu tun... Wir sind nicht mehr im Krieg.
Lena
Sie wurden zu mir geschickt – sie haben Sie geschickt. Sie sind ihr Komplize. Ich weiß, es gibt Juden, die ihnen helfen... Warum haben Sie an der Uhr gedreht? Warum haben Sie mich gerufen? Kennen Sie das Geheimnis?
Um Lena davon zu überzeugen, dass der Krieg vorbei ist, gibt Sand ihr eine Tageszeitung und holt schließlich auch Dora zu Hilfe. Dora versucht mit Lena ins Gespräch zu kommen, fragt sie nach ihrer Familie und dem gemeinsamen Herkunftsort. Lena erzählt von ihrer Flucht und wie sie durch den Grafen gerettet wurde, bleibt jedoch Sand und Dora gegenüber skeptisch.
Dora
Aber wie hast du hier die ganze Zeit gelebt?!
Lena
Nachts, wenn keine Gefahr lauerte, drehte er an der Uhr, immer um zehn, und ich trat zu ihm hinaus. Dann war ich die Schlossherrin. Alles gehörte mir. Und er sorgte für mich wie für seine eigene Tochter. Er las mir schöne Bücher vor und lehrte mich neue Dinge, die ich in der Schule nicht gelernt habe, viel schönere Dinge als jene, die man in der Schule lernt. Und manchmal las er mir aus der Offenbarung vor, über das Ende der Welt und die Auferstehung... Und er saß mit mir im Musikzimmer... Seid ihr dort gewesen?
Sand
Ja.
Lena
Und dort spielte er für mich. Er spielt wie ein Engel. Er spielt für mich Chopin.
Dora
(mit Verachtung) Chopin! Wie ich ahnte!
Lena
Nein, nein! Reden Sie nicht so über ihn. Er spielt wie ein Engel... Ah, ihr könnt es nicht wissen! Manchmal, wenn ich keine Furcht hatte... wenn die Nazis für einige Zeit fortgegangen waren... das heißt... Nun, also, wenn er sagte, dass die Nazis fortgegangen waren, tanzten wir sogar ein wenig. (zu Dora) Tanzen Sie Walzer?
Dora
Du willst also hier bleiben, Walzer tanzen, in den Nächten Schlossherrin spielen – und tagsüber – tagsüber ist er noch nicht einmal der Schlossbesitzer. Das Schloss wurde ihm weggenommen, und zu Staatsbesitz erklärt. Jetzt ist er, dein Graf, nur noch der Hüter des Schlosses – nur zu deiner Information. Und möchtest du weiterhin Chopin hören, Bücher über das Ende der Welt und den Tod lesen und an einen Mann gebunden sein, der dich belogen und betrogen hat… bis er stirbt und zerfällt – und dann?
Lena
Ich weiß es nicht. Ich will nicht weiterhin so leben. Ich will überhaupt nicht mehr leben. Ich will sterben. Warum seid ihr hierhergekommen? Wer hat euch darum gebeten?
Dora
Wir sind gekommen, um dir zu helfen von hier fortzugehen. Komm mit uns nach Palästina. Dort werden wir dich in eine Gruppe Gleichaltriger bringen. Du wirst leben, arbeiten, gesund sein, frei und glücklich, wie alle jungen Leute.
Lena kann sich die Zukunft nicht so rosig vorstellen, wie Dora sie ihr beschreibt und ist sich nicht sicher, ob sie überhaupt weiterleben will. Dora entdeckt ein Amulett um ihren Hals, das Gift enthält und will es ihr wegnehmen, lässt aber schließlich davon ab. Lena verlässt das Zimmer, um den Grafen zu rufen.
Dora
Ach, sieh mal an! Sie ist gegangen – sie ist die Treppen hinuntergegangen, mit dem Gift! Was wird nur geschehen, was wird werden! Geh, rufe sie!
Sand
Das werde ich nicht tun. Lass sie gewähren.
Dora
Aber sie... das Gift...
Sand
Nichts wird geschehen: Schon will sie wahrlich leben, mehr als sie ahnen kann!
Dora
Oh, du bist dir deiner wohl sehr sicher! Und jetzt wird sie ihn tatsächlich rufen! Diesen Kriminellen!
Sand
Jetzt ist er bereits ein Krimineller!
Dora
Was sonst, wenn kein Krimineller? Vielleicht Ausdruck dieser geläuterten Kultur, von der du so eingenommen bist? Hm? Dieselbe wunderbare Tradition? Dieselbe vornehme Klasse adliger Seelen! Jetzt siehst du, wie vergänglich und verschwindend harmlos sie sind – dass jeder Streit mit ihnen bedeutungslos ist! Ha!
Sand
Da gibt es nichts zum Streiten – über solch abstrakte Angelegenheiten, und sowieso, meine Liebe, du übertreibst!
Dora
Ich übertreibe?! Wo bitteschön übertreibe ich! Hast du nicht gesehen, was er diesem Mädchen angetan hat? Ach! In letzter Woche ist mir ein ähnlicher Fall begegnet mit einem Abt und einem Jungen! Aber das kann ich noch verstehen… wenn Menschen ein Kind weiterhin im Geiste ihrer Religion erziehen wollen... oder eine Familie, die Kinder adoptiert hat und Zuneigung zu ihnen entwickelt… Aber das!
Sand
Das kannst du nicht verstehen?
Dora
Ich kann und will es nicht verstehen!
Sand
Vor allem willst du nicht. – ein Mensch, dessen Welt in Stücke zerborsten ist! Ein Mensch, der mit Mut und Hingabe gekämpft hat – für die Welt, die nicht mehr Seine ist. Und siehe er fand in dieser Welt jemanden, ein Geschöpf, das er lieben konnte… Gut, ich rechtfertige nicht, was er getan hat, genauso wenig wie ich deinen Abt rechtfertige. Aber seine Schwachheit kann und w i l l ich verstehen. Siehst du nicht, dass es nicht einfach eine erotische Beziehung ist, dass es nicht bloß die Liebe eines alten Mannes zu einem jungen Mädchen ist – dass es der letzte Strohhalm ist, an dem er sich festhält in seiner imaginären Welt, das Teuerste von allem? Für ihn ist sie nicht bloß ein einfaches Mädchen – sie ist die Schlossherrin!
Dora
Die Schlossherrin! Zum Teufel mit deiner Philosophiererei! Ich kann und will die Dinge nur so sehen wie sie sind... Und so wie ich sie sehe, sind sie auch, ja! Ah – ich weiß schon selber gar nicht mehr, was ich da rede – das – das Ganze – das ist alles so weit weg von der Realität...
Sand
Das ist die Realität – Weil die Realität, hat viele Gesichter, Dora, von denen einige uns und unserem Alltag sehr fremd erscheinen...
Lena kehrt schließlich zurück, ohne den Grafen gerufen zu haben. Sie erklärt Dora und Sand, dass sie ihnen nun glaubt, verrät ihren Familiennamen und erzählt aus ihrer Vergangenheit. Dora lenkt ihren Blick in die Zukunft und versucht sie für ein Leben in Erez Israel zu begeistern.
Dora
Was hat er ihr nur angetan?! Er ist tot, ein hilfloses Knochengerüst. Das ist die Wahrheit. Er gehört der Totenwelt an. Aber du, bist ein schönes junges Mädchen, dazu gesund – das ganze Leben liegt vor dir. Wie viele Menschen ich bereits gesehen habe, denen Entsetzliches widerfuhr, nicht vergleichbar mit den Kleinigkeiten, die dir zugestoßen sind, Kranke, Gebrochene, Verwundete, solche, die nicht mehr unter dem Schatten Gottes lebten. Allein um ihnen zu begegnen, solltest du mit mir nach Erez Israel kommen, um zu sehen, mit welcher Freude, mit welcher Lust am Leben sie zurückgekehrt sind in die Welt der Menschen. Und sie hatten tatsächlich niemanden auf der Welt, keine einzige Seele – aber dir wird es kaum schwer fallen neue Kontakte zu knüpfen. Wenn du sie nur sehen könntest...
Lena
Vielleicht sind andere dazu in der Lage – ich nicht. Vielleicht wissen sie nicht, was ich weiß.
Dora
Was weißt du?
Lena
(wie im Delirium) Ich weiß, dass ich bereits tot war. Ich weiß, dass es keinen Weg zurück gibt zu den Lebenden. Nur wer treu war bis zum Tod, dem wird die Krone des Lebens gegeben. Ich weiß, dass der physische Tod nur eine Stufe ist – ein Tor zum Vierten Königreich!
Sand
Erneut das Vierte Königreich!
Lena
Im vierten Königreich gibt es weder Tote noch Lebende, weder Jung noch Alt. Wer den Tod besiegt, während er noch lebt, wird eintreten in das Vierte Königreich. Wer überwindet, dem kann der zweite Tod nichts anhaben...
Dora
Und das glaubst du?
Lena
(aufwachend, wie aus einem Traum, versucht geradewegs zu antworten) Ich weiß es nicht. Manchmal ja, manchmal nein. Als ich von einem Leben träumte, ganz allein, ohne den Grafen, erträumte ich mir etwas anderes. Dann glaubte ich es nicht. Aber wenn mir keine Hoffnung mehr blieb, wenn ich wusste, dass ich sterben würde, dass der Tod früher oder später auf mich warten würde, dann überließ mir der Graf diesen Traum. Und er wurde mein Traum. Und ich träumte ihn – als es keine Hoffnung mehr gab... Und ich schenkte ihm Glauben… Warum seid ihr hierhergekommen? Dies war mein letzter Traum!
Dora und Sand versuchen Lena davon zu überzeugen, dass auch die Lebenden Träume haben und dass sie mit ihnen nach Erez Israel kommen soll. Als Lena jedoch begreift, dass sie den Grafen allein im Schloss zurücklassen muss, entschließt sie sich zu bleiben.
3. Akt
Zabrodsky
Willst du, dass ich dich um Verzeihung bitte? Das werde ich nicht. Um Verzeihung und Vergebung werde ich vor einem anderen Gericht bitten. Und du – ich weiß es sehr wohl: Entweder wirst du mich bis ans Ende der Zeiten verfluchen – und was ist dann eine Bitte um Vergebung! – oder du wirst j e n e verfluchen, nachdem du gesehen hast, was sie dir in jener freien und schönen Welt zu bieten haben, in dieser bescheidenen und geradlinigen Welt, mit ihrer Freiheit, der Freiheit von Sklaven. Aber jetzt musst du in diese Welt gehen.
Lena
(schweigt)
Sand
Wir werden dir die Gelegenheit geben alles zu bedenken, Lena, und selbst zu wählen.
Dora
Niemand wird dich hier festhalten können...
Lena
Ich bleibe hier. (zu Zabrodsky) Hier mit dir...
Zabrodsky
(hört diese erlösende Nachricht. Plötzlich aber steht er von seinem Platz auf und spricht als würde er von großem Schmerz ergriffen). Nein, es ist vorbei, aus und vorbei. Du wirst nicht hier bei mir bleiben.
Lena
Ich will bleiben.
Dora
Lena, hör zu...
Zabrodsky
Was wirst du hier tun? Wer wirst du hier sein? Die Frau oder Mätresse des Schlosshüters? Karten an Touristen verkaufen, die hierher kommen, in dieses M u s e u m ? Diese beiden, sie haben alles zerstört. Es ist nicht rückgängig zu machen: Du bist nicht die Schlossherrin, genauso wenig wie ich der Schlossherr bin. Das ist das Ende.
Allmählich beginnt Lena die Reichweite von Zabrodskys Betrug zu begreifen. Sie versteht, dass sie bereits seit zwei Jahren hätte frei sein können und dass alles Geschehene dieser beiden Jahre eine Täuschung war. Nach einem längeren Monolog am offenen Fenster verschwindet Lena mit dem Gift um ihren Hals ganz plötzlich hinter der Geheimtür. Sobald die drei wieder allein im Zimmer sind, täuscht der Graf vor, dass Lena nur eine Traumvorstellung war, die Sands und Doras Fantasie entsprungen sei. Dora ist durch die Situation sehr mitgenommen.
Dora
(sich jetzt völlig untergebend) Sand hat an der Uhr gedreht. Die Uhr läutete zehn Mal. Und dann trat Lena aus der Wand...
Zabrodsky
Ja, ja, genauso erzählten Sie es zuvor, aus der Wand!
Sand
Nicht aus der Wand. Wie Sie die Wörter umdrehen. Sie wissen sehr wohl: Sie kam aus der geheimen Tür, die unter dem Wandteppich ist.
Zabrodsky
Geheime Türen gibt es nur in Romanen für junge Damen im Alter von fünfzehn Jahren... Hier gibt es keine geheimen Türen. Haben Sie nicht selber nachgesehen?!
Sand
Aber sie war dort.
Zabrodsky
Möchten Sie sich noch ein weiteres Mal versichern? (steht auf, nähert sich dem Wandteppich, hebt ihn hoch) Nun! (Es ist keine Tür zu sehen. Sand tastet nochmals die Oberfläche ab) So! Nur in alten Romanen gibt es solche Dinge... in Romanen, in Träumen. Lena, sagtet ihr, war ihr Name?
Dora
Ja.
Zabrodsky
(kehrt um und setzt sich auf seinen Platz) Lena – ein schöner Name. Ja... Auch ich hatte einen Traum. (ohne es zu merken versinkt er in eine Vision) Lena war ihr Name. Eines Tages kam sie zu mir – und mit ihr kehrten die Tage meiner Jugend zurück... und in diesem Schloss war alles wie einst... in den Nächten war es, als gehe der Mond inmitten des Schlosses auf... die Prophetie ward erfüllt: Weder gab es Lebende noch Tote, weder Alt noch Jung... Die Wahrheit wurde in Erinnerungen zu Fleisch und Blut... das Leben, das nicht zurückzubringen ist, ward noch einmal Wirklichkeit... Und wenn einer von uns beiden plötzlich hätte sterben müssen, wäre es nur eine weitere Stufe gewesen, in eine andere Wirklichkeit, eine höhere... Denn die Wirklichkeit war ein Traum. Wir alle haben geträumt.
Lena tritt durch die Geheimvorrichtung zurück ins Zimmer und bittet Dora und Sand sie mitzunehmen. Dora organisiert die Abreise und die letzten Worte fallen zwischen dem Grafen und Lena.
Zabrodsky
(schaut sie an) Ich werde dich nicht aufhalten. (zu Sand, der Anstalten macht hinauszugehen) Gehen Sie nicht, mein Herr. Bleiben Sie! Wir beide – sie und ich – haben einander nichts mehr zu sagen. Für uns ist es vorbei! Jeder Traum endet mit dem Erwachen. (Lena bewegt sich auf ihn zu, ohne ihn anzuschauen, fast als merke sie es nicht). Du brauchst mir nicht deine Hand zu reichen, ich bin mir nicht einmal sicher, dass ich die Berührung spüren würde. Du warst und bist nicht mehr – ich war und bin nicht mehr.
Lena
(schaut Sand fragend an. Sand macht eine ermutigende Geste. Zu Zabrodsky, unter großer Anstrengung) Graf...
Zabrodsky
Nein. Es ist nicht nötig, Lena. Du musst gehen. Du musst alles vergessen, wenn du dort leben möchtest... in ihrer Welt.
Sand
(nimmt Lena bei der Hand) Sie wird dort leben.
Zabrodsky
Scheinbar ist dies von nun an die einzige Welt, die real ist. Die Realität der Hellwachen und Klarsichtigen. Du hast gewählt, und du musst deine Wahl akzeptieren, die Träume müssen aus dem Herzen weichen.
Lena
(wieder wirft sie Sand einen flehenden Blick zu)
Sand
Träume, die vorbei sind – weichen von selber aus dem Herzen... Aber nicht alle Träume enden mit dem Erwachen. In der Welt der Hellwachen gibt es Träume – viele Träume. Träume, die auf andere Weise geträumt werden... (sieht, dass sie zum Fenster schaut). Ja – dort im Garten. Dort gibt es Bäume. Es gibt noch Gärten und Bäume. Du kannst, vielleicht erinnerst du dich, unter einem Baum liegen, mit offenen Augen – den Himmel dort droben durch die Blätter betrachten... Ja... und vielleicht weht der Wind... Und wie dem auch sei. Müde wie man ist, legt man sich träge nieder, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und träumt… einfach so… mit offenen Augen... Die Hellwachen... sie träumen im Wachen...
So verlässt Lena gemeinsam mit Sand und Dora das Schloss und zurück bleibt der Graf, der das Schlagen der Kuckucksuhr vernimmt. Es ist Mitternacht und der Vorhang fällt.
Lea Goldberg, Ba’alat ha-armon, Bnei-Brak 1990 (1956).